Harninkontinenz – Tabu ansprechen lohnt sich


15.04.2023

Harninkontinenz Tabu ansprechen lohnt sich Eine «Blasenschwäche» kann die Lebensqualität der Betroffenen enorm einschränken. Dabei lässt sich der unfreiwillige Harnabgang meistens gut behandeln – je früher, desto besser!

 

Es passiert ungewollt, häufig im Rahmen körperlicher Belastungssituationen (z.B. beim Husten, Niesen, Lachen, Springen oder Turnen) oder verbunden mit starkem Harndrang. Die Rede ist von unwillkürlichem Harnabgang, in der Fachsprache Harninkontinenz genannt, im Volksmund besser bekannt als «Blasen- schwäche». Harninkontinenz tritt prinzipiell bei jungen und alten Menschen auf, ab dem 50. Lebensjahr steigt die Anzahl der Betroffenen jedoch stark an. Schätzungen zufolge verliert jede dritte Person über 65 Jahren zumindest gelegentlich unfreiwillig Urin. Frauen sind hierbei aufgrund ihrer schwächeren Beckenbodenmuskulatur dreimal häufiger von ungewolltem Urinverlust betroffen als Männer, diese holen aber mit zunehmendem Alter auf – nicht zuletzt aufgrund einer dann oft zum Tragen kommenden Prostatavergrösserung. Auch neurologische Erkrankungen (z.B. Multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Schlaganfall), Stoffwechselerkrankungen (z.B. Diabetes mellitus) sowie Verletzungen/ Schädigungen des Rückenmarks bzw. der die Harnblase und/oder den Beckenboden versorgenden Nerven (z.B. nach operativen Eingriffen im Bereich des kleinen Beckens) können mit einer Harninkontinenz vergesellschaftet sein. Schätzungsweise leiden in der Schweiz rund eine halbe Million Menschen unter Harninkontinenz. Die Dunkelziffer dürfte aber deutlich höher ausfallen, da Harninkontinenz immer noch häufig ein Tabuthema darstellt, über das nicht gesprochen wird. Viele Betroffene nehmen das Problem vielmehr einfach hin, versuchen, damit alleine zurechtzukommen, oder ziehen sich sogar komplett aus dem sozialen Leben zurück. Dabei ist eine Harninkontinenz kein unabänderliches Schicksal, sondern kann in vielen Fällen mit Erfolg behandelt werden.

Formen der Harninkontinenz

Durch umfassende Abklärungen muss zunächst herausgefunden werden, welche Art der Harninkontinenz vorliegt. Tritt die Harninkontinenz bei alltäglichen körperlichen Anstrengungen wie z.B. beim Husten, Niesen, Heben/Tragen schwerer Lasten auf, spricht man von einer Belastungsinkontinenz. Bei der Dranginkontinenz handelt es sich um eine Harnblasenspeicherungsstörung, bei der typischerweise ein plötzlicher Harndrang auftritt, der kaum zu kontrollieren ist und der zum unwillkürlichen Urinverlust bis hin zur ungewollten vollständigen Entleerung der Harnblase führen kann. Darüber sind auch Misch- formen (sogenannte Mischinkontinenz) oder ungewollte Urinabgänge bei voller Harnblase ohne vorherige Harndrangwahrnehmung im Sinne einer sogenannten Überlaufinkontinenz möglich.

Mehrere Diagnoseschritte

Wichtige Informationen, um welche Form der Harninkontinenz es sich handeln könnte, liefert das sogenannte Blasentagebuch. Darin wird an drei bis vier aufeinanderfolgenden Tagen schriftlich festgehalten, wie häufig die Harnblase im Verlauf des Tages und während der Nacht entleert wird. Es wird protokolliert, wie gross die Urinportionen und die tägliche Trinkmenge sind. Ferner wird notiert, ob ungewollt Urin verloren wird und wie oft und in welchen Situationen dies auftritt. Werden Einlagen verwendet, erfasst man deren Anzahl und Feuchtigkeitsgrad. Im Falle einer vorliegenden Harnblasenfunktionsstörung gehören im Rahmen der ärztlichen Erstkonsultation folgende Abklärungen zur Basisdiagnostik: Ausführliche Befragung durch die Ärztin oder den Arzt inklusive Auswertung des idealerweise im Vorfeld geführten Blasentagebuchs, gründliche körperliche Untersuchung, Urintest, Ultraschalluntersuchung der Nieren und Harnblase sowie eine Harnstrahlmessung («freie Uroflowmetrie»), bei der die Patienten auf einer Spezialtoilette Urin lösen dürfen. Befundabhängig sind gegebenenfalls weiterführende diagnostische Massnahmen erforderlich. Vor allem bei drangassoziierter Harninkontinenz dient eine Harnröhren-/Harnblasenspiegelung («Urethro-Zystoskopie») dazu, allfällige, die Beschwerden verursachende Faktoren wie Entzündungen und Tumore in Harnblase und Harnröhre oder andere Pathologien (z.B. Blasensteine) auszuschliessen. Zur spezifischen Überprüfung der Harnblasen- und Beckenbodenfunktion dient schliesslich die sogenannte Blasendruckmessung («Urodynamik»). Bei dieser, in der Regel in sitzender Körperposition durchgeführten, Untersuchung wird zunächst ein dünner Druckmesskatheter über die Harnröhre in die Harnblase eingelegt. Über diesen speziellen Katheter wird die Harnblase anschliessend mit steriler Flüssigkeit gefüllt. Die während dieser Füllphase und der nachfolgenden Harnblasenentleerung entstehenden Drücke werden aufgezeichnet. Um Druckwertverfälschungen durch Druckschwankungen im Bauchraum zu vermeiden, registriert ein zusätzlicher in den Enddarm ein- gebrachter feiner Druckmesskatheter zeitgleich die dort auftretenden Drücke. Darüber hinaus wird die Muskelaktivität des Beckenbodens und des Harnröhrenschliessmuskels über am Damm platzierte Klebeelektroden gemessen. Die Blasendruckmessung kann mit einer Röntgenuntersuchung kombiniert werden (sogenannte «Video-Urodynamik»), um gewisse Veränderungen im Bereich des harnableitenden Systems, v.a. einen krankhaften Rückfluss von Urin zu den Nieren, darstellen zu können.

Von Physiotherapie bis Operation

Das Behandlungsspektrum bei Harninkontinenz ist vielfältig. Die therapeutischen Optionen hängen hierbei von Ursache/Form der Harnblasen-/Beckenbodenfunktionsstörung ab und werden mit dem Patienten in einem ausführlichen Beratungsgespräch erörtert. Nicht selten führt bereits eine regelmässige Beckenbodenphysiotherapie zur Verbesserung der Beschwerden. Auch verschiedene Medikamente können den ungewollten Harnverlust häufig wirksam behandeln. Eine weitere Therapiemöglichkeit bei Dranginkontinenz stellt die Injektion von Botulinum-A-Toxin (Botox®) in den Blasenmuskel dar. Andere Behandlungsmethoden zielen darauf ab, die für die Harnblasen-/ Beckenbodenfunktion zuständigen Anteile des Nervensystems durch indirekte Stimulation (sog. «Neuromodulation») positiv zu beeinflussen: Bei der transkutanen elektrischen Nervenstimulation des Nervus pudendus (TENS-P) handelt es sich um ein neuromodulatives Therapieverfahren, das zu Hause angewendet werden kann. Dabei wird über eine vorübergehend in der Scheide platzierte Sonde bzw. über am Penis angebrachte Elektroden zwei- mal pro Tag eine schmerzfreie Therapie durchgeführt. Die perkutane tibiale Nervenstimulation (PTNS) wird ambulant im interdisziplinären Beckenbodenzentrum des Spitals Thun angeboten: In mindestens 12 jeweils 30-minütigen Sitzungen in wöchentlichen Zeitabständen wird der Tibialis-Nerv analog zur konventionellen Akupunkturtechnik über eine im Bereich des Innenknöchels gesetzte Nadelelektrode stimuliert. Bei der sakralen Neuromodulation wird nach einer erfolgreichen Testphase ein Nervenschrittmacher unter die Haut im Lendenbereich implantiert, über den anschliessend die Stromtherapie durchgeführt werden kann. Sollte eine reine Belastungsinkontinenz vorliegen, kommen je nach Symptomausprägung gegebenenfalls auch die operative Platzierung von Harnröhrenbändern/-schlingen bzw. die Implantation eines künstlichen Schliessmuskels in Betracht. Sind all diese Methoden nicht erfolgreich, stehen
verschiedene weitere chirurgische Therapiemassnahmen bis hin zum Harnblasenersatz in diversen Formen zur Verfügung.

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